UNSERE ERSTE ZEIT IM FLÜCHTLINGSLAGER

Auszug aus « Bekreuzige dich mit der Zunge und geh weiter„ von George Purdea

Mein Mann lag auf dem Bett nebenan, den Kopf auf die Hand gestützt, unbekümmert in eines seiner mitgeschleppten altgriechischen Bücher vertieft. Er strengte sich wahrscheinlich an, einen philosophischen Satz im Original zu lesen. Mein Mann! Ich erinnerte mich an die warnenden Worte meiner Mutter: „Mit wem willst du in die Welt hinaus? Mit dem? Siehst du nicht, dass ihn nur eines beschäftigt? Bücher!? Ausgerechnet auf einen rumänischen Philosophen werden sie im Westen gewartet haben! Wovon werdet ihr leben?

Alles wird auf dir lasten. Auf deinen schwachen Schultern. Bleibt lieber zu Hause. Der „Verrückte“ wird nicht ewig leben. Dann wird sich auch bei uns alles ändern. Weißt du, wir haben für dich gespart, nur damit du, damit ihr …“ „Lass, Mama. Lass es gut sein; das sind nur so Pläne“, antwortete ich jedes Mal. Wozu sollte ich sie kränken? In ein paar Tagen sollte sie wieder ins Krankenhaus eingeliefert werden. Sie schien verstanden zu haben, denn sie kam nicht mehr darauf zurück. George, der bei Besuchen im Krankenhaus immer wieder etwas Lustiges oder Gescheites zu erzählen wusste, sah sie aber misstrauisch an.

………………

Unter den Polen fiel mir eine Frau auf. Sie war etwa Mitte Dreißig. Auch mit dem Eimer in der einen und dem Besen in der anderen Hand behielt sie eine gewisse Vornehmheit. Jedes Mal, wenn sie unser Zimmer betrat, starrte mein Mann sie an, als hätte er plötzlich eine von den in seinem altgriechischen Buch abgebildeten Göttinnen vor Augen. Sie lächelte ihm sanft zu, wenn er auf sie zustürzte, um ihr den umgefallenen Besen aufzuheben oder die Sessel auf den Tisch zu stellen. Aber auch mich lächelte sie an, dankbar wahrscheinlich, dass ich gegenüber der offensichtlichen Schwäche meines Mannes für sie keine Eifersucht zeigte. Eines Tages fragte sie mich in gebrochenem Englisch etwas über meine Tochter – und so lernten wir uns kennen. Sie war allein mit zwei Kindern da und hoffte, trotz zweifacher Ablehnung ihrer Bewerbung, letzten Endes doch noch nach Amerika zu kommen. Zu Hause sei sie eigentlich – unter uns gesagt – von niemandem „politisch“ verfolgt. Vielleicht aber vom Schicksal, denn ihr Mann war vor zwei Jahren durch einen Arbeitsunfall ums Leben gekommen. Nun wolle sie ihren Kindern ein anderes Leben ermöglichen. Angst davor, was in der Fremde passieren könnte – wozu? Sie sei bereit, jede Arbeit zu tun, wie schwer auch immer sie sein möge; und wer weiß, vielleicht würde sie einmal auch wieder ihren Beruf – sie war technische Zeichnerin – ausüben.

Dieses Treffen mit der Polin machte mir viel Mut. Wenn sie keine Angst hatte, warum dann ich, die zumindest einen Mann hatte, wie immer er auch sein mochte. Er könnte zu Hause bleiben, sich um die Kleine kümmern, während ich arbeite …Denn auch in Bukarest war‘s meist nicht viel anders gewesen.

….,,,,,,,,………..

Zu den Insassen unseres Zimmers gesellten sich am nächsten Tag noch zwei etwa 16- bis 17-jährige Mädchen. Sie waren einfach per Anhalter von Ungarn nach Österreich gefahren. Ein deutsches Ehepaar hatte sie mitgenommen, niemand hatte sie an der österreichischen Grenze nach Pässen gefragt – sie waren „wie durch den Käse durchgerutscht“. Sie hatten Glück gehabt und waren sehr geschwätzig. Schon ein paar Stunden nach ihrer Ankunft waren sie von einer Schar Jugendlicher umgeben, die ihnen überall hin folgten. Sie schienen überhaupt nicht müde oder bekümmert hinsichtlich ihrer Zukunft. Sie hätten Verwandte in Amerika und machten sich keine Sorgen. Hauptsache, sie hätten es geschafft!

Ich muss gestehen, sie würden uns „den Älteren“ im Zimmer, langsam ein bisschen lästig. Manchmal stürzten sie plötzlich mit einem oder mehreren Begleitern ins Zimmer, ohne an die Türe zu klopfen. Auch nach dem angeordneten Lichtabdrehen kicherte sie bis spät in die Nacht und brachten immer wieder in lautes Lachen aus. Einem, der es wagte, sie wegen des ständigen Hin- und Hergehens zurechtzuweisen, konterten sie gleich, sie seien doch nicht in die Freiheit geflüchtet, um sie zu verschlafen! Wie so manche anderen…

Und dann brachten sie wieder in Lachen aus. Natürlich waren die beiden bei meiner Tochter sehr beliebt, denn sie nahmen sie auf ihre Spaziergänge mit oder drehten sie, sie an Fuß und Hand festhaltend, im Kreis.

Eine von ihnen schockierte mich sogar. Ich kam früher vom Mittagessen zurück und überraschte sie, wie sie sich auf dem Bett leidenschaftlich mit einem Burschen küsste. Das konnte doch nicht wahr sein!  Denn nur einen Tag zuvor hatte ich gesehen, wie sie mit einem anderen – der dürfte inzwischen ins freie Lager, ins Parterre versetzt worden sein- Hand in Hand spazierte und Zärtlichkeiten austauschte!

Eines späten Abends konnte ich zufällig mitanhören, wie sie mit dem neuen Partner schimpfte. Dabei sprach sie voll Mitleid von den „beiden Armen“, die ihre Halbseligkeiten auf der Flucht wegwerfen mussten, damit sie nicht – wie der andere Sohn bzw. Bruder – geschnappt würden. Dabei sagte sie zu ihrem Freund: „Warum bist du so geizig? Du bekommst so wie so andere von deinem Bruder.“  Erst am nächsten Tag auf dem Weg zum Essen wurde mir klar, was sie gemeint hatte: Der fromme  Bauer, dessen jüngster Knabe an der Grenze geschnappt worden war, trug einen auffallend großen, grellen Pullover, der sich von seinem bäuerlichen Gesicht seltsam abhob, und der Junge ein paar abgetragene Turnschuhe. Die Kleidungsstücke waren offensichtlich abgetragene Sachen von dem Kavalier.

Mich rührte diese Geste des schwarz-gelockten Mädchens mit seinem weichen Herzen, in dem ich nur Leichtsinn vermutet hatte.

Schau an, was für Ein Schatz sich in ihrem zerstreuten Kopf verbirgt! Und ich schämte mich, nicht selber auf die Idee gekommen zu sein…

Ich nahm aus dem Packet meines Mannes eine Tube Rasiercreme und einen Wegwerfrasierer und schickte Iulia, die sich schon mit allen angefreundet hatte, zu den beiden. Was die Mädchen getan hatten, sprach sich herum und fand auch bei den Flüchtlingen anderer Nationalitäten Nachahmung. Einer brachte ein Leibchen, der andere ein paar neu Strümpfe. In der Situation erlebte ich zum ersten Mal das seltene Gefühl der Solidarität. Die Spenden bedeuteten für jeden einen Verzicht, ja sogar Selbstüberwindung. Die innerliche Wärme und die erhebende Freude, in die sie umschlug, war aber unvergleichlich schöner als jede andere Genugtuung. Diese Geschichte brachte uns alle vom dritten Stock näher. Vielleicht ließ sie uns sogar ahnen, dass wir nicht nur ein zufälliges und flüchtiges Häuflein verschiedenster Existenzen waren, die jeweils ihre eigenen Probleme als die wichtigsten empfanden, sondern auch eine Schicksalsgemeinschaft, in der selbst einander helfen konnten.

Auf alle Fälle störte mich das weitere Beisammensein mit den lärmenden Mädchen nicht mehr.

…………

Eines Tages hörten wir unsere Namen aus dem Lautsprecher: Wir sollten zum Fotografieren gehen, in ein Zimmer an einem seitlichen Gang. Wir traten ein und ich wurde gleich von einem korpulenten Beamten zu einer breiten Schale mit Tinte geführt. Er tauchte meine Finger der Reihe nach ein, drehte sie nach links und rechts und drückte sie danach auf eine Scheibe. Dabei stand er schräg hinter mir und sagte immer wieder: „locker halten, looocker!“ Gleichzeitig wurde George aufgefordert, auf einem Sessel Platz zu nehmen, der auf einer Art von Podest zwischen zwei großen Beleuchtungslampen stand. Man hängte ihm eine Tafel mit einem Kennzeichen um. Nachdem er sich hingesetzt hatte, schaute er mich an. Auf seinem Gesicht war eine Mischung aus Scham und Schuld, die er angestrengt zu verbergen suchte, ja, es war derselbe Blick, den er mir schon einmal zugeworfen hatte, als er mich vor Jahren zu einem streng verbotenen Eingriff begleitet hatte und ich in einem Haus am Rande der Stadt durch die Tür verschwunden war. Wie damals kostete es mich Überwindung, ihm zuzulächeln, als sei mir alles gleichgültig. Dann wechselten wir. Ich setzte mich auf den Sessel, mir wurde eine andere Nummerntafel umgehängt, und dann knipste es zweimal: von vorne und von einer Seite. Ich ging hinaus, ohne auf George zu warten. Auf dem Gang zum Zimmer begegnete ich der schönen Polin, die, wie mir schien, etwas erzählen wollte. Als sie näherkam, begriff sie, dass etwas geschehen war, nahm meine noch blau verschmierten Finger in ihre Hand und schaute mir in die Augen. Dann, ohne meine Hand loszulassen, zog sie mich zu einem Fenster und sagte mir: „Hey, don‘t be sad. You know, this is our fate. Humiliated at home, humiliated here, humiliated whereever we go. But our children, our children will be by nobody humiliated, our children will be free …“

 

 

2 Gedanken zu “UNSERE ERSTE ZEIT IM FLÜCHTLINGSLAGER

Kommentar verfassen