Und dein Papa?

„Und dein Papa?“
Der Zwuckopa hinter dem Lenkrad völlig überrascht von dieser Frage seitens seinem dreijährigen Enkelkindes,
rückt den inneren Rückspiegel so, dass er den Kleinen hinten auf dem Kindersitz sehen kann. Dieser wirkt abwesend, schaut nur durch die seitliche Scheibe in die farblich unendlich abgestuften Weinbergen hinaus.
„Er ist verstorben…“
antwortet der Zwuckopa nach einer Weile.
„Verstorben?“
„Nicht mehr da…“
„Warrrrum?“
Der rollende „rrr“ vom Zwuck in seiner Frage bringt den Opa gewöhnlich zum Schmunzeln, diesmal aber nicht.
Was soll er ihm antworten? Denn was auch immer seine Antwort ist, steigert sich bestimmt Zwuck zu erneutem und wiederholtem „Warrrrum?“
Eigenartig diese unvermittelte Frage, jetzt, denkt der Zwuckopa bei sich. Wird der Kleine womöglich etwas von seinen Sorgen mitbekommen, wegen der vielen teils aufgeregten Telefonaten in den letzten Wochen mit den Geschwistern in Siebenbürgen!

Es habe sich ein ernster Käufer fürs Elternhaus in ihrem Geburtsort angemeldet. Er, der Zwuckopa, der jüngste unter ihnen, der ausgewanderte, möge nun endlich kommen, um auch in seine Unterschrift auf den Vertrag zu setzen! Es stehe sowieso nach dem Ableben der Eltern meistens leer! Denn die Enkelkinder der damals dort lebenden Großeltern seien inzwischen Jugendliche geworden, wollen in den Ferien ans Meer oder in den Bergen reisen, nicht mehr zum Grosselternhaus! Darüber hinaus, die Erhaltungskosten…
Er selbst sieht zwar das alles ein, nur: dass er sich mit einem Federfüller in der Hand über einem Bogenblatt mit dem Titel Verkaufsvertrag sich beugt, nein, das kann er noch nicht über sich bringen!“
„Hat er sich verrrrsteckt?!“
unterbricht der Zwuck seinen in Gedanken vertieften Opa. Dieser zuckt auf und dauert es eine Weile bis er checkt, wen sein Enkel damit meinte.
„Ob sich mein Papa versteckt hat?“
schmunzelt er diesmal, überraschst von der Schönheit dieser kindlichen Vorstellung vom Tod!
„Ja, irgendwie schon…“
setzt der Zwuckopa nachdenklich fort, weil in dem Augenblick die Erinnerung an den vorjährigen Besuch im Friedhof seines Geburtsortes in ihm aufstieg.
Es war anders als In den Jahren davor, wo schon beim Drücken der metallischen halb gerosteten Torklinke des Friedhofs eine Mischung von Trauer und Verlegenheit ergriff. Als er im vorigen Herbst aber an einem sonnigen Vormittag auf der unteren Friedhofsallee entlang der Reihe der marmornen, dunklen oder weißen Grabsteine schritt, hatte irgendwie das Gefühl sich auf einem Schiff entlang der Palazzi von Venedig zu befinden. Oder auf einer archäologischen Grabstätte oder in einem Museum. Nichts von der Schwere
der früheren Friedhofsbesuchen zu Allerheiligen war mehr da! Er ließ sich Zeit um die kalligraphischen Widmungen zu lesen, die fensterartigen Vertiefungen mit Kerzenhalter und kunstvoll gemeißelten schmiedeeisernen Zäunen zu betrachten. Und als er am gemeinsamen schlichten Grabstein seiner Eltern angekommen war, zwang er sich nur deswegen dort länger zu bleiben, damit er sich selbst und anderen gegenüber nicht als pietätlos erscheint.

Nachdem er wieder im Elternhaus angelangt war und mit einem Buch in der Hand im Gartenhof herumging, blieb er auf einmal stehen: unter einem aus dem Nichts entstandenen Windstoß kamen von den langen Laubblättern der nun kolbenfreien Maishalme kurz abgehackte Töne, wie von einem Orchester, das sich vor dem Konzertbeginn einstimmt. Gleichzeitig ertönte der Flügelschlag einer in die Lüfte springende Taube und das helle Lachen eines Kindes aus der Nachbarschaft.
Hier im Hofgarten des Elternhauses auf dem Gras zwischen Obstbäume, Sommerküche, Plumpsklo und hohe Maishalme, ergriff ihn für den Bruchteil einer Sekunde das schaurig erhabene Gefühl nicht alleine zu sein. Die Zeit brach kurz ab und ließ etwas von der Zeitlosigkeit hereinbrechen!
Und gleichzeitig wuchs in ihm die Gewissheit, dass auch wenn dies alles nur eine Täuschung ist, wäre er nicht mehr derselbe, wenn er hierher nicht zurückkehre könnte!

„Weißt du Zwuck, es hat einmal vor vielen, vielen Jahren einen wunderbaren Mann gegeben, er hieß Aeneas. Er musste in Gefahr von zu Hause wegfliehen, er vergaß aber niemals sein Elternhaus. Wie hätte er nur das tun können?! Zwar waren seine Eltern schon längst verstorben, doch
die Schutzgötter des Hauses wohnten noch da, hinter dem Herd versteckt, und riefen ihm in die Ferne zu: „Komm Aeneas, komm wieder heim du entfremdeter Haussohn! Wenn du zu lange fernbleibst, verdursten wir!“
„Ja, Himpelchen und Pimpelchen, die lieben Zwerge!” zwitscherte entzückt der Zwuck von seinem hinteren Kindersitz!
Der Zwuckopa schwieg nur, aus Angst, der Kleine könnte das Zittern in seiner Stimme merken und wischte sich nur heimlich die feuchten Augen…

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„Phu! wie viele tolle Klamotten! Darf ich mir von dir was ausborgen?“ – fragt Goldioma ihre Tochter und kommt schon aus der begehbaren Garderobe mit einem Kleid in der Hand, das die Letztere seit der Schwangerschaft nicht mehr trägt. Wie sie sich und ihre Mutter im großen Spiegel erblickt, überkommt die Tochter ein Anflug von Eifersucht, wie ein lästiger Mückenstich. Das Kleid steht ihrer Mama wie auf den Leib geschneidert! Bei sich selbst geht der Bauch nach der zweiten Schwangerschaft verdammt langsam zurück.

Typisch Großfamilie Zwuck:

Ihre Mama ist nicht auf ihren Mann, den Goldieopa, eifersüchtig, der, gegenüber weiblicher Gäste der Tochter vor Galanterie nur so übersprudelt, aber sie, die Tochter ist sehr wohl gelegentlich auf ihre Mama neidisch. Gut, aber welche junge Frau hat solch eine Mama? „Normal“ ist sie mit ihrer Teenager Figur und kindlichem Gemüt, sicher nicht! Nun holt sich die Goldieoma noch einen Schal von der Garderobe, wirft ihn um die Schulter, schaut kurz in den Spiegel, sagt Ciao und verschwindet zum Bahnhof. Zu Fuß natürlich, mehrere Kilometer! Ebenso den Weg am Abend zurück!

 

Während Iulia ihrer Mama vom ersten Stock nachschaut, wie diese flink wie ein Wiesel über einen Wanderweg Richtung Bahnhof marschiert, schmunzelt sie in sich hinein. Es kommt ihr die vom Goldieopa häufig wiederholte, von Homer stammende Geschichte der Göttin Aphrodite wieder in den Sinn. Die Goldieoma sei doch nur eine Wiederauferstehung der altgriechischen Göttin, breitet er sich bei geselligen Anlässen über dieses Thema aus!

Es ist ihm, dem Hirtensohn aus Transsilvanien nicht anders gegangen als dem Hirtensohn auf dem griechischen Berg Ida. Es war ihm, dem Philosophiestudenten, damals in den Jugendjahren nicht danach, sich auf eine neue Beziehung einzulassen, er wollte nach einer schweren Prüfung einfach ins Bukarester Konzerthaus gehen um klassische Musik zu hören.

Ebenso wenig war es ihm, dem Hirtenjunge Anchises danach: Nachdem er in der Dämmerung die Kühe ins Gehege getrieben und eine nach der anderen gemolken hatte, setzte er eine Flöte an seinen Lippen, um etwas zu spielen, bis das Fleischgericht auf dem offenem Feuer vor der Holzhütte kochte.

 

Als er in weiter Ferne die auf ihn zulaufende, lichtumgebenen Erscheinung erblickte, sprang Anchises auf. Das Körpergewicht war gleich auf das linke, angewinkelte Bein verlagert, die Lanze wie in eisernen Zangen in der rechten Hand, die Spitze steil empor gerichtet. Es fehlte nur der allerletzte, flüchtige Blick, um den Abstand zu dieser plötzlich auf ihn stürzenden Erscheinung einzuschätzen, bis sich seine Lanze im hohen Bogen durch die Lüfte schwirrend in die…

Beim Zeus! Wie steht nun plötzlich diese anmutige Gestalt, kaum einen Schritt von ihm entfernt! Ist sie, die soeben in der Weite gesichtete Gestalt? Und nun war sie hier neben ihm, wie angeflogen!

Und was war mit seinem so verlässlichen Hunde los, der jedes sich annähernde Wild schon lange bevor er es sichtete, durch lautes Bellen anmeldete? Als Anchises auf die Beine sprang und mit dem rechten Arm zum Lanzenwurf ausholte, blieb sein Hund mit der Schnauze am Boden und blickte zu ihm, als ob er sich fragte, wie sein Herr darauf kam, bei so einem ruhigen Sommerabend, mit Kampfübungen zu beginnen. Und nun, was tut er?! Er beschnuppert die zarte Gestalt der aus dem Himmel gefallenen jungen Frau und schmiegt sich freundlich wedelnd an ihre kurzen Stiefel, als wäre sie eine lange Vertraute!

Der an sich wackere Hirtensohn war nicht einmal aus dieser allerersten Verwirrung heraus, als sich eine weitere dazu gesellte. Denn, als diese Erscheinung ihn als eine Königstochter ansprach, die sich bei der Jagd verlaufen hatte, machte er gleich eine tiefe Verbeugung und bat ihr seinen Platz auf dem Bärenfell vor dem Feuer an. Aber sie! Sie richtete nur den Blick zur Holzhütte und wiederholte ihren Wunsch sich gleich hinzulegen, so müde war sie! Könnte er sie hinein begleiten? …

 

Der Philosophiestudent schlich auf Zehenspitzen den langen, dicken Teppich im halbdunklen Konzertsaal nach vorne. Das Konzert für Violine und Orchester von Ludwig van Beethoven hatte schon angefangen. Denn erst kurz nach Konzertbeginn wurden die mittellosen Studenten, gegen ein Trinkgeld eingelassen. Da machte der Portier einen diskreten Wink mit dem Kinn und die geduldig wartenden Studenten eilten an ihm vorbei und steckten ihm eine Packung Zigaretten oder ein paar Münzen zu.

Der Student schritt bis in die Höhe der dritten Sitzreihe, dort ragte bei „seinem“ Stehplatz aus der Wand ein kleiner Sims hervor, sodass er sich im Stehen dagegen stützen konnte. Dann machte er die Augen zu. Er liebte es klassische Musik mit geschlossenen Augen zu hören.

Sonst merkte er irgendwelche Details im Auftreten der Protagonisten – mal die zu hohen Schuhabsätze des Violinvirtuosen, mal die leicht schief liegende Schleife des Dirigenten – die dann allerlei lästige Überlegungen in seinem Kopf hervorriefen. So, mit geschlossenen Augen schwebten ihm vor dem inneren Auge beim Lauschen der Akkorde allerlei vertraute Bilder vor.

Wie nun: Das Horn ertönt einmal lang und er scheint das Muhen der Joana zu vernehmen, der stattlichen Schwarzkuh aus seinem siebenbürgischen Dorf! Auf dem Heimweg von der Hügelwiese entlang des Dorfbaches kommend, löste sie sich vor dem Haustor aus der restlichen Herde und wartete geduldig bis jemand ihr aufmachte. Muuh.

Oder die nun folgenden sanften Streichakkorde: Die klingen, wie die in den hölzernen Kübel laufende Milch beim Melken der Schwarzkuh. Denn nachdem er sie zum Stall brachte, setzte er sich auf einen Schemel dicht an ihr mächtiges Euter und zog der Reihe nach an den vier Zitzen bis der Kübel voller frischer Milch war.

 

Nun zuckte er plötzlich auf: Der Paukenschlag aus dem hinteren Teil des Orchesters ertönte mit einer ungewöhnlichen Lautstärke, brutal sogar. Er überblickte die Sitzreihe in seiner Höhe, um zu sehen, ob den anderen dies auch so vorkam. Doch auf niemandes Gesicht regte sich etwas!

 

In dem Moment erblickte er sie, die spätere Goldieoma. Eigentlich nicht als Ganzes sondern nur ihre in seidenen Strümpfen umhüllten runden Knie, die leicht nach außen ragten. Auch etwas von ihrer kleinen Nase und in einem Knoten hochgesteckten Haare. Ein Pupperl der vornehm Gesellschaft, denkt er sich. Denn wer kann sich sonst einen solchen Sitzplatz leisten? In der dritten Reihe vor der Bühne? Da müsste man in dem kommunistischen Land entweder Botschafter oder Sprösslinge eines hochgestellten Bonzen sein.

Er schloss wieder die Augen, entschieden sich nicht von ihr ablenken zu lassen! Doch mit dem Hervorsprießen sanft flatternder und glücklich stimmender Bilder vor seinem inneren Auge war es vorbei!

Als er aber die Augen kurz wieder halb aufmachte, staunte er nicht wenig: mit dem Oberkörper war die zarte Schönheit in seiner Richtung gedreht und ihre Augen ruhten diskret aber unübersehbar auf ihm! …